Künstliche IntelligenzMacht und Bedeutung
Wenn die Botschaft Estlands in Berlin zu einem E-Government-Forum über „KI trifft auf Verwaltung“ einlädt, kann man sichergehen, dass die eigene Vormachtstellung in Sachen Digitalisierung genüsslich ausgekostet wird. Und so geschah es auch. Beim E-Government Survey 2020 der Universität Oxford, im Benchmark Report der Europäischen Union und beim E-Government Development Index aller UN-Staaten rangiert der kleine baltische Staat jeweils sehr weit vorne und das vergleichsweise große Deutschland bestenfalls im Mittelfeld. Das ist zwar hinlänglich bekannt, aber deswegen nicht weniger blamabel.
Estland nimmt für sich in Anspruch, die Verwaltungsdigitalisierung im Grunde abgeschlossen zu haben. Alle Services liegen online vor, nur Heirat und Scheidung – so wird gerne gewitzelt – verlangen noch persönliches Erscheinen. Siim Sikkut, der 38-jährige CIO des Landes, verwies in seiner Videobotschaft darauf, dass Unternehmensgründungen, die Steuererklärung und die Staatsbürgerschaft seit Langem elektronisch vollzogen werden. Im Gesundheitswesen liegen alle Daten digital vor, Rezepte werden beim Video-Arztbesuch online ausgestellt. An der vergangenen Wahl nahmen 44 Prozent der Esten online teil. Dies alles basiert auf der schon 2002 eingeführten elektronischen Identitätskarte, die mit ihrer neuesten Version zu 16 Prozent als mobile Applikation im Wallet und zu 34 Prozent als Smart ID auf estnischen Handys vorliegt. Hier ist Sikkut aber gar nicht mehr auf dem neuesten Stand – die Website Estlands weist schon höhere Zahlen aus.
KI als Richter
Insofern erscheint der nächste Schritt bei der Digitalisierung nahezu folgerichtig und zwingend: die Einführung von künstlicher Intelligenz (KI). Und auch hier hat der Kleinstaat die Nase vorn. Vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Gesellschaft sollen künstliche Intelligenz und schlaue Algorithmen wichtige Funktionen übernehmen und die Behörden entlasten. Dazu hat Estland 2019 eine KI-Strategie für den Staat und die Wirtschaft verabschiedet und schreitet mit großen Schritten in der Umsetzung voran. Schlagzeilen wie „KI-Richter in Estland fällt Urteile per Algorithmus“ oder „Künstliche Intelligenz als Staatsbeamter“ klingen für unsere Ohren reichlich futuristisch, doch in Estland laufen solche Pilotprojekte seit dem Jahr 2019.
Wie der estnische CIO berichtet, sind inzwischen 110 KI-Anwendungen live gegangen oder in der Entwicklung. Dabei wird zwischen Staat und Wirtschaft nicht groß unterschieden. Die Optimierung von Geschäftsprozessen, Automatisierung des Kundenservices oder Qualitätskontrollen in der Wirtschaft werden weitgehend maschinell erledigt. Anstelle von Staatsbediensteten überwachen in der Landwirtschaft nun KI-Systeme den regelmäßigen Heuschnitt per Analyse von Satellitenbildern – das ist Voraussetzung für den Erhalt von Geldern aus den EU-Strukturfonds. Ebenso führt eine automatische Spracherkennung die schriftlichen Protokolle im Parlament aus, und Algorithmen werten umfängliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern aus und bestimmen über die Risikofaktoren für Langzeitarbeitslosigkeit. „bürokratt“ nennt sich das Netzwerk mit digitalen Services, die in Estland alle über virtuelle Assistenten erreichbar sind.
Fortschritt und Risiko
Auf der Ebene von Assistenzsystemen bewegen sich auch die deutschen Vorzeigeprojekte, die Pia Karger, IT-Beauftragte im Bundesinnenministerium, in ihrer Keynote vorstellte. Künstliche Intelligenz werde künftig für Forschung und Technikfolgenabschätzung wichtig, schickte sie voraus, und könne innerhalb der Verwaltung Routineaufgaben ohne Ermessensspielraum erledigen. Die praktischen Beispiele beziehen sich auf Chatbots im Kontext von COVID-19 und Kfz-Steuer. Ein Karriere-Bot assistiert bei Fragen zu den Einstellungsvoraussetzungen in der Bundesverwaltung, auch in der Suchtberatung werde ein Chatbot für Jugendliche eingesetzt. Eine so genannte „schwache KI“ unterstützt die Polizei bei der Bilderkennung von Kinderpornografie – offenbar so erfolgreich, dass eine ganze KI-Strategie für die Polizei derzeit in Vorbereitung ist. Mit Verweis auf die EU-Verordnung und die Datenethikkommission betonte Karger, dass es einerseits um Wettbewerbsfähigkeit und Innovation gehen müsse, andererseits die Gemeinwohlorientierung nicht hintanstehen dürfe: „Die Risiken sollen nicht die Entwicklung behindern.“
Bei der „Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, kurz: eu-LISA, ist man schon weiter. Dort legitimieren die Risiken die Entwicklung. Auf der Veranstaltung in der estnischen Botschaft berichtete Luca Tagliaretti, stellvertretender Direktor der Behörde mit Sitz in Straßburg und Talinn, wie bei der auch für den Grenzschutz zuständigen Behörde momentan verschiedene, einst getrennte Datenbanken zu einer Super-Sicherheitsdatenbank zusammengeführt werden: das Schengener Informationsystem SIS, biometrische Daten aus den Eurodac-Fingerabdruck-Scannern, das Visa-System VIS und noch weitere Register. KI-Systeme kommen etwa bei der Spracherkennung von Dialekten zum Einsatz, um die Angaben von Asylbewerbern zu überprüfen, aber auch bei der polizeilichen Fahndung.
Blaupausen weiterreichen
Solche Großsysteme führen die Macht und Bedeutung der künstlichen Intelligenz vor Augen. Herunterskaliert auf die Ebene kommunaler Anwendungen lässt sich feststellen, dass Estland alle KI-Entwicklungen in der Github-Umgebung tätigt. Das ist eine für alle Entwickler einsehbare Open-Source-Plattform. Alois Krtil, Geschäftsführer des Artificial Intelligence Center (ARIC) in Hamburg, hob dies als Erfolgsfaktor von Estland hervor und plädierte für mehr Zusammenarbeit und Vernetzung im Bereich der kommunalen KI. „Die Blaupausen müssen weitergereicht werden, man muss nicht alles selbst entwickeln“, erklärte er die Herangehensweise von ARIC.
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