Künstliche IntelligenzMacht und Bedeutung

[12.11.2021] Künstliche Intelligenz soll immer mehr Hilfestellung und Unterstützung im öffentlichen Sektor leisten. Staaten wie Estland, die von einer schrumpfenden Bevölkerung gekennzeichnet sind, treiben die Entwicklung voran.
Estland ist Deutschland bei der Verwaltungsdigitalisierung und beim Einsatz von KI weit voraus.

Estland ist Deutschland bei der Verwaltungsdigitalisierung und beim Einsatz von KI weit voraus.

(Bildquelle: alekstaurus_123rf.com)

Wenn die Botschaft Estlands in Berlin zu einem E-Government-Forum über „KI trifft auf Verwaltung“ einlädt, kann man sichergehen, dass die eigene Vormachtstellung in Sachen Digitalisierung genüsslich ausgekostet wird. Und so geschah es auch. Beim E-Government Survey 2020 der Universität Oxford, im Benchmark Report der Europäischen Union und beim E-Government Development Index aller UN-Staaten rangiert der kleine baltische Staat jeweils sehr weit vorne und das vergleichsweise große Deutschland bestenfalls im Mittelfeld. Das ist zwar hinlänglich bekannt, aber deswegen nicht weniger blamabel.
Estland nimmt für sich in Anspruch, die Verwaltungsdigitalisierung im Grunde abgeschlossen zu haben. Alle Services liegen online vor, nur Heirat und Scheidung – so wird gerne gewitzelt – verlangen noch persönliches Erscheinen. Siim Sikkut, der 38-jährige CIO des Landes, verwies in seiner Videobotschaft darauf, dass Unternehmensgründungen, die Steuererklärung und die Staatsbürgerschaft seit Langem elektronisch vollzogen werden. Im Gesundheitswesen liegen alle Daten digital vor, Rezepte werden beim Video-Arztbesuch online ausgestellt. An der vergangenen Wahl nahmen 44 Prozent der Esten online teil. Dies alles basiert auf der schon 2002 eingeführten elektronischen Identitätskarte, die mit ihrer neuesten Version zu 16 Prozent als mobile Applikation im Wallet und zu 34 Prozent als Smart ID auf estnischen Handys vorliegt. Hier ist Sikkut aber gar nicht mehr auf dem neuesten Stand – die Website Estlands weist schon höhere Zahlen aus.

KI als Richter

Insofern erscheint der nächste Schritt bei der Digitalisierung nahezu folgerichtig und zwingend: die Einführung von künstlicher Intelligenz (KI). Und auch hier hat der Kleinstaat die Nase vorn. Vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Gesellschaft sollen künstliche Intelligenz und schlaue Algorithmen wichtige Funktionen übernehmen und die Behörden entlasten. Dazu hat Estland 2019 eine KI-Strategie für den Staat und die Wirtschaft verabschiedet und schreitet mit großen Schritten in der Umsetzung voran. Schlagzeilen wie „KI-Richter in Estland fällt Urteile per Algorithmus“ oder „Künstliche Intelligenz als Staatsbeamter“ klingen für unsere Ohren reichlich futuristisch, doch in Estland laufen solche Pilotprojekte seit dem Jahr 2019.
Wie der estnische CIO berichtet, sind inzwischen 110 KI-Anwendungen live gegangen oder in der Entwicklung. Dabei wird zwischen Staat und Wirtschaft nicht groß unterschieden. Die Optimierung von Geschäftsprozessen, Automatisierung des Kundenservices oder Qualitätskontrollen in der Wirtschaft werden weitgehend maschinell erledigt. Anstelle von Staatsbediensteten überwachen in der Landwirtschaft nun KI-Systeme den regelmäßigen Heuschnitt per Analyse von Satellitenbildern – das ist Voraussetzung für den Erhalt von Geldern aus den EU-Strukturfonds. Ebenso führt eine automatische Spracherkennung die schriftlichen Protokolle im Parlament aus, und Algorithmen werten umfängliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern aus und bestimmen über die Risikofaktoren für Langzeitarbeitslosigkeit. „bürokratt“ nennt sich das Netzwerk mit digitalen Services, die in Estland alle über virtuelle Assistenten erreichbar sind.

Fortschritt und Risiko

Auf der Ebene von Assistenzsystemen bewegen sich auch die deutschen Vorzeigeprojekte, die Pia Karger, IT-Beauftragte im Bundesinnenministerium, in ihrer Keynote vorstellte. Künstliche Intelligenz werde künftig für Forschung und Technikfolgenabschätzung wichtig, schickte sie voraus, und könne innerhalb der Verwaltung Routineaufgaben ohne Ermessensspielraum erledigen. Die praktischen Beispiele beziehen sich auf Chatbots im Kontext von COVID-19 und Kfz-Steuer. Ein Karriere-Bot assistiert bei Fragen zu den Einstellungsvoraussetzungen in der Bundesverwaltung, auch in der Suchtberatung werde ein Chatbot für Jugendliche eingesetzt. Eine so genannte „schwache KI“ unterstützt die Polizei bei der Bilderkennung von Kinderpornografie – offenbar so erfolgreich, dass eine ganze KI-Strategie für die Polizei derzeit in Vorbereitung ist. Mit Verweis auf die EU-Verordnung und die Datenethikkommission betonte Karger, dass es einerseits um Wettbewerbsfähigkeit und Innovation gehen müsse, andererseits die Gemeinwohlorientierung nicht hintanstehen dürfe: „Die Risiken sollen nicht die Entwicklung behindern.“
Bei der „Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, kurz: eu-LISA, ist man schon weiter. Dort legitimieren die Risiken die Entwicklung. Auf der Veranstaltung in der estnischen Botschaft berichtete Luca Tagliaretti, stellvertretender Direktor der Behörde mit Sitz in Straßburg und Talinn, wie bei der auch für den Grenzschutz zuständigen Behörde momentan verschiedene, einst getrennte Datenbanken zu einer Super-Sicherheitsdatenbank zusammengeführt werden: das Schengener Informationsystem SIS, biometrische Daten aus den Eurodac-Fingerabdruck-Scannern, das Visa-System VIS und noch weitere Register. KI-Systeme kommen etwa bei der Spracherkennung von Dialekten zum Einsatz, um die Angaben von Asylbewerbern zu überprüfen, aber auch bei der polizeilichen Fahndung.

Blaupausen weiterreichen

Solche Großsysteme führen die Macht und Bedeutung der künstlichen Intelligenz vor Augen. Herunterskaliert auf die Ebene kommunaler Anwendungen lässt sich feststellen, dass Estland alle KI-Entwicklungen in der Github-Umgebung tätigt. Das ist eine für alle Entwickler einsehbare Open-Source-Plattform. Alois Krtil, Geschäftsführer des Artificial Intelligence Center (ARIC) in Hamburg, hob dies als Erfolgsfaktor von Estland hervor und plädierte für mehr Zusammenarbeit und Vernetzung im Bereich der kommunalen KI. „Die Blaupausen müssen weitergereicht werden, man muss nicht alles selbst entwickeln“, erklärte er die Herangehensweise von ARIC.

Helmut Merschmann




Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich: IT-Infrastruktur

S-Management Services: Neuer Service zur Aktualisierung von XÖV-Standards

[08.11.2024] S-Management Services bietet jetzt einen neuen Service, der es öffentlichen Verwaltungen erleichtern soll, stets aktuelle Versionen der XÖV-Standards einzusetzen. mehr...

Thüringen: NOOTS in Bundesverantwortung

[07.11.2024] Der Freistaat Thüringen unterstützt den Vorschlag von Bremen und Sachsen-Anhalt, dass die Bundesländer dem Bund die Verantwortung über eine wichtige föderale IT-Plattform überlassen. mehr...

Rechenzentrum von innen, Blick in eine Gasse mit blau beleuchteten Server-Racks.

OSBA: Sovereign Cloud Stack bleibt

[30.10.2024] Die Plattform Sovereign Cloud Stack wird nur noch bis Jahresende vom Bundeswirtschaftsministerium finanziert. Ein neu gegründeter Zusammenschluss von Open-Source-Unternehmen innerhalb der Open Source Business Alliance wird auch in Zukunft zentrale Ergebnisse absichern und die Weiterentwicklung der Standards gewährleisten. mehr...

MACH: Bundestemplate vor der Einführung

[25.10.2024] Bundesbehörden können mit dem neuen Bundestemplate MACH alle haushaltsrelevanten Vorgänge standardisiert und digitalisiert ausführen. Als erstes testet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ab 2025 die neue Lösung. mehr...

Das Bild zeigt einen Bildschirm mit einer Ansicht des Programms disy Cadenza.

Disy/Ionos: Datensouveräne Umgebung

[04.10.2024] Das Karlsruher Unternehmen Disy Informationssysteme und der Cloudanbieter Ionos haben eine Kooperation gestartet, um innovative und datenschutzkonforme Software-as-a-Service-Lösungen anzubieten. mehr...

Das Bild zeigt Oliver von Kleist, Partner Manager Cloud bei ]init[, und Tim Kartali, Head of Global Partner Sales bei IONOS.

init / Ionos: Gebündelte Kräfte für Verwaltungscloud

[24.09.2024] Um digitale Cloudlösungen im öffentlichen Sektor voranzutreiben, haben die Unternehmen init und Ionos eine Kooperation vereinbart. Ziel ist es, sichere und skalierbare Plattformen anzubieten, die speziell auf die Anforderungen der Verwaltung zugeschnitten sind. mehr...

Das Bild symbolisiert das Thema Cloud Computing.

Delos Cloud: Erste Dienste für 2025 geplant

[23.09.2024] Die Delos Cloud für die öffentliche Verwaltung soll im kommenden Jahr an den Start gehen. Die Partner Delos Cloud, Microsoft und Arvato Systems haben jetzt Verträge unterzeichnet, die den Betrieb und die Zusammenarbeit sicherstellen. mehr...

Das Bild zeigt eine stilisierte Platine mit enem Cloud-Symbol und dem Schriftzug SAP.

SAP: Milliarden für sichere Cloudlösungen

[20.09.2024] In den kommenden zehn Jahren will SAP mehr als zwei Milliarden Euro in die Entwicklung hochsicherer Cloudlösungen für den öffentlichen Sektor und stark regulierte Branchen investieren. mehr...

Rechenzentrum von innen, Blick in eine Gasse mit blau beleuchteten Server-Racks.

Bayern: Neuer ELSTER-Standort

[05.09.2024] Mit rund 22 Millionen aktiven Benutzerkonten gilt ELSTER als eines der erfolgreichsten E-Government-Verfahren Deutschlands. Östlich von München wurde nun ein neuer Rechenzentrumsstandort eingeweiht, der zur Ausfallsicherheit beitragen soll. mehr...

Bayern/Sachsen: Zukunftsweisende KI-Forschung

[08.08.2024] Energieeffiziente Hardware und entsprechende Softwarekomponenten für KI-Anwendungen will eine länderübergreifende Hochschulkooperation im Forschungsprojekt GAIn (Next Generation Al Computing) entwickeln. Die Freistaaten Bayern und Sachsen bezuschussen das Projekt mit insgesamt sechs Millionen Euro. mehr...

Hochwasserwarnschild vor einer überfluteten Fläche

Niedersachsen: Stabssoftware CommandX wird erprobt

[30.07.2024] Das Land Niedersachsen pilotiert in Kreis Uelzen die Stabssoftware CommandX. Diese soll im Katastrophenfall die Kommunikation aller Stäbe und Stellen vereinfachen und beschleunigen. Bis zum Jahresende soll die Lösung an zahlreichen Stellen in ganz Niedersachsen ausgerollt sein. mehr...

Das Bild zeigt die Außenansicht der Firmenzentrale von Bechtle.

Bechtle: Großauftrag für Apple-Geräte

[29.07.2024] Der IT-Dienstleister Bechtle liefert 300.000 Apple-Geräte im Wert von bis zu 770 Millionen Euro an Bundesbehörden. Bei der Abwicklung des Auftrags wird Bechtle von Materna unterstützt. mehr...

Die deutsche Delegation auf dem 4. Projectathon in Brüssel.

Registermodernisierung: Once-Only für Geburtsnachweis erprobt

[18.07.2024] In Brüssel fand zum vierten Mal der Projectathon statt. Das Event bringt die EU-Mitgliedstaaten zusammen, um deren Beiträge zur Once-Only- und zur Single-Digital-Gateway-Umsetzung interoperabel zu testen. Der deutschen Delegation gelang der grenzüberschreitende Nachweisaustausch im Bereich Personenstand zur Umsetzung des Once-Only-Prinzips. mehr...

Symbol Cloud Computing, Hand tippt auf digitale Wolke

Thüringen: Souveräne Cloud

[09.07.2024] Der Freistaat Thüringen setzt auf eine eigene souveräne Verwaltungscloud. Diese wird im landeseigenen Rechenzentrum aufgebaut und betrieben. mehr...

Ministerien und Ämter des Freistaats Bayern können künftig Anwendungen aus der  Kubernetes-Cloud nutzen.
bericht

Cloud-Strategie: Bundeskanzleramt verwirft Deutsche Verwaltungscloud

[27.06.2024] Mit einem ungewöhnlichen Schritt brüskiert das Kanzleramt alle Initiativen rund um die Deutsche Verwaltungscloud und drängt die Bundesländer zu einem Vertragsabschluss mit Delos, einer in Deutschland betriebenen Variante der Microsoft Azure Cloud. mehr...