Citizen ExperienceDie Bürger nicht vergessen

[19.09.2023] Die Digitalisierung der Verwaltung wird nur gelingen, wenn man dabei sowohl die Bürgerinnen und Bürger mitnimmt als auch die Prozesse neu und bürgerzentriert denkt sowie gestaltet. Ein Plädoyer für echte Nutzerzentrierung bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes.

Verfolgt man die öffentliche Diskussion zum Onlinezugangsgesetz (OZG), geht es selten darum, dass sich die Digitalisierung auch an den Bürgerinnen und Bürgern orientieren muss. Vielmehr versuchen einige damit zu punkten, neue Fristen zu setzen oder einen Rechtsanspruch durchzusetzen. Doch was nutzt der Rechtsanspruch, wenn die digitale Dienstleistung nur von wenigen genutzt werden kann. Ein Rechtsanspruch hätte wahrscheinlich die Folge, dass zahlreiche Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Verbände und Vereine klagen werden. Damit wäre nichts gewonnen, da solche Prozesse die sowieso schon knappen Ressourcen bei vielen Behörden binden würden. Aus Angst vor Rechtsfolgen digitalisiert man dann lieber schnell als gut.
Die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen ist eine einmalige Möglichkeit, Tabula rasa zu machen. Nicht einfach den Prozess, so wie er seit Jahrzehnten in Papierform existiert, in ein Online-Formular umzuwandeln. Vielmehr braucht es bei jedem Prozess aufs Neue folgende Überlegungen: Welche Daten brauche ich wirklich, welche Daten liegen mir bereits vor oder können die Bürgerinnen und Bürger digital zur Verfügung stellen? Sind die Fragen, die ich den Bürgerinnen und Bürgern stelle verständlich und eindeutig? Wenn nicht, wie kann ich sie im Prozess so leiten, dass sie nicht abspringen müssen und alle Informationen bekommen, die sie brauchen? Was passiert, wenn etwas fehlt? Alles nochmal von vorne oder einfach mit dem, was man hat, abspeichern und dann später die fehlenden Informationen nachreichen? Über all dem sollte aber die Frage stehen: Wie gehen die Bürgerinnen und Bürger den Prozess an?

Web-Seiten wie Aktenvermerke

Den Behörden fehlt oft die Außensicht auf ihre Prozesse und Kommunikation. Es gibt zahlreiche Behördenseiten, die sich wie ein Aktenvermerk lesen, Online-Formulare, die selbst hartgesottene Behördenprofis zur Verzweiflung bringen und zahllose Medienbrüche auf dem Weg zum Ziel. So hat es der Bund bis heute noch nicht geschafft, ein Gesetzesportal zu schaffen, das ein zeitgemäßes User Interface hat, mit Permalinks arbeitet und Versionsgeschichten anzeigen kann. Auch kürzlich neu gestartete Rechtsportale mancher Länder sind kein Hort der Nutzerfreundlichkeit.
Bezeichnend, dass das Bundesinnenministerium den Gesetzentwurf für das neue Onlinezugangsgesetz und das zugehörige Eckpunktepapier lediglich als nicht barrierefreies PDF veröffentlicht hat. Wer wissen will, was sich konkret im Gesetzestext ändert, dem bleibt nichts anderes übrig, als detektivische Textexegese zu betreiben.
Warum ist ein Bundesministerium nicht in der Lage ist, so etwas zeitgemäß und webtauglich aufzuarbeiten, während man zeitgleich gesetzlich eben jene Barriere- und Medienbruchfreiheit fordert?

Übersetzungsfunktion zwischen Binnen- und Außensicht

Es zeigt sich, dass in vielen Behörden der Beratungsbedarf groß ist. Dabei ist den Mitarbeitenden noch nicht mal ein Vorwurf zu machen. Ich habe selbst elf Jahre Öffentlichkeitsarbeit für eine oberste Landesbehörde gemacht. Ich weiß daher, wie viel Arbeit es bedeutet, der Übersetzungsfunktion zwischen Behördenbinnensicht und Bürgeraußensicht gerecht zu werden, und dass es trotz hohen persönlichen Einsatzes nicht immer zu schaffen ist.
Das liegt vielleicht auch daran, dass das Internet in so mancher Behörde immer noch der Anhang der Pressestelle ist. Aber auch daran, dass manches Projekt von IT- oder anderen Fachabteilungen umgesetzt wird und die Expertise bezüglich nutzerorientiertem Design schlichtweg fehlt. Woher soll es auch kommen? Und auch hier ist den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen nicht wirklich ein Vorwurf zu machen. Sie sind weder Kommunikatorinnen noch Online-Strategen. Gewinnt dann noch eine Agentur mit technischem Fokus die Ausschreibung, nimmt das Unheil seinen Lauf.

Den digitalen Behördenbesuch zur Citizen Experience machen

Dabei sind die Servicestandards für die Umsetzung des OZG hinsichtlich nutzerzentriertem Design mehr als eindeutig. Trotzdem sind gute nutzerzentrierte Online-Angebote von Behörden doch eher die Ausnahme als die Regel.
Was es braucht, ist ein ganzheitlicher Ansatz, der Online-Auftritte von Behörden in allen seinen Facetten betrachtet. Wie Unternehmen ihre Web-Angebote als Customer Experience verstehen, so müssen Behörden ihre Auftritte als Citizen Experience auffassen. Aus meiner Sicht besteht die Citizen Experience dabei aus vier Säulen.
1. Information: Staat und Verwaltung müssen die Bürgerinnen und Bürger über ihr Handeln informieren. Informationen müssen leicht verständlich, hierarchisch und zielgruppengerecht zugänglich sein.
2. Soziale Interaktion: Staat und Verwaltung müssen nah- und ansprechbar sein. Die Bevölkerung erwartet Rückkanäle, die auch moderiert und bearbeitet werden. Dreh- und Angelpunkt sind hier Wissensmanagement und Bürgerorientierung.
3. Integration: Bürgerinnen und Bürger wollen mehr und neue Formen der Bürgerbeteiligung. Sie möchten sich aktiv einbringen.
4. Institutionelle Interaktion: Bürgerinnen und Bürger erwarten auch bei Online-Diensten von Behörden eine nahtlose Benutzererfahrung. Online-Prozesse müssen reibungslos und möglichst ohne Vorwissen ablaufen können. So interagieren 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gerade gar nicht bis zwei Mal im Jahr mit der Verwaltung. Sie haben quasi bei jeder Interaktion Erstkontakt mit dem User Interface. Es muss also umso mehr intuitiv und selbsterklärend sein.
Natürlich erfordert dieser Ansatz vielerorts ein grundlegendes Umdenken und wird zunächst sicher mehr personelle und finanzielle Ressourcen benötigen. Nutzerorientiertes Design und Usability Tests müssen Bestandteil von Ausschreibungen sein und auch bei der Anbieterauswahl entsprechend hoch priorisiert werden.

Eine Win-win-win-Investition

Von einer guten Citizen Experience profitiert nicht nur die Bürgerschaft, sondern auch die Behörde selbst. Mittelfristig spart eine gute Citizen Experience Ressourcen. Wenn Informationen zielgruppengerecht und leicht auffindbar sind, müssen sie weniger Fragen beantworten, vom Input durch die Rückkanäle profitieren sie, weil sie das Informationsangebot anhand „echter Bürgerfragen“ auf- und ausbauen können. Frühzeitige Bürgerbeteiligung kann Prozesse verkürzen, potenzielle Konflikte erkennen und nach Möglichkeit schlichten. Alle, die Prozesse im Selfservice online abwickeln können, müssen nicht aufs Amt kommen, rufen nicht an, schreiben keine E-Mail. Eine Ende-zu-Ende-Digitalisierung befreit die Mitarbeitenden von eintöniger Datenpflege und ermöglicht schnellere Abwicklungen.
Dänemark ist ein Land, das die Digitalisierung schon seit über 20 Jahren massiv vorantreibt. Inzwischen können Bürgerinnen und Bürger dort alles online erledigen. Keine Frage, das Land hat viel in die Digitalisierung investiert. Doch heute spart Dänemark knapp 300 Millionen Euro jährlich. Die Verfahrensdauer wurde um 30 Prozent reduziert.
Ich habe nun schon öfter den Satz gehört: „Damit lassen sich keine Wahlen gewinnen. Warum also zu viel Energie und Aufwand auf dieses Thema verschwenden?“ Doch am Ende profitieren auch die politisch Verantwortlichen. In der Regel kommen die Bürgerinnen und Bürger nur selten mit dem Staat in Kontakt. Das Bild, das die Menschen von Staat und Verwaltung haben, wird dabei entscheidend von diesen Kontakten geprägt. Mit 71 Prozent liegt das Vertrauen in den Staat in Dänemark deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 51 Prozent.
Ein Gewinn, der sich nicht in Geld aufwiegen lässt, ist das steigende Vertrauen der Stakeholder in die Verwaltung und damit in den Staat und die Demokratie.

Jana Höffner

Höffner, JanaJana Höffner hat bis Anfang 2023 die Online-Kommunikation im Staatsministerium Baden-Württemberg geleitet und dort elf Jahre lang die „Politik des Gehörtwerdens“ ins Digitale übersetzt. Seit 2023 arbeitet sie als Beraterin für Behördenkommunikation und Citizen Experience für die Dresdner Agentur ressourcenmangel integral. In ihrem Newsletter „Und das jetzt digital“ informiert sie regelmäßig über aktuelle Nachrichten aus dem Bereich E-Government, Digitalisierung und Citizen Experience.



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