InterviewQuer denken und alte Zöpfe abschneiden
Herr Lühr, als Finanzstaatsrat der Freien Hansestadt Bremen haben Sie zahlreiche Digitalisierungsprojekte begleitet. Wie ist Bremen im Bundesvergleich beim E-Government aufgestellt?
Hier ist für mich folgende Fragestellung maßgebend: Was läuft richtig gut? Nicht: Wie viele Online-Anwendungen haben wir installiert? Bremen stellt nach dem E-Mahngericht, der elektronischen Vorgangsbearbeitung in den Gerichten (wir berichteten), der elektronischen Akte in fast allen Behörden (wir berichteten) ganze Bearbeitungsprozesse um. Es geht also nicht um Marketingauftritte und -effekte. Die Digitalisierung ist ein zäher Prozess, der nur erfolgreich sein kann, wenn er zielgerichtet betrieben wird. Gut funktioniert in Bremen etwa ELSTER. Bei der Einrichtung des Online-Finanzamts (wir berichteten) war es das Ziel, die Quote der über ELSTER abgegebenen Einkommenssteuererklärungen massiv voranzubringen. Dies ist gelungen. Die Quote ist von 54,2 Prozent auf 66,8 Prozent gestiegen, also um 12,6 Prozent zwischen Oktober 2018 und Dezember 2019. Dies sind über 37.000 Fälle mehr, und 2019 wurde erstmals die 100.000-Marke der per ELSTER abgegebenen Einkommenssteuererklärungen durchbrochen. Zudem wurden im Online-Finanzamt in den 15 Monaten Laufzeit mehr als 2.600 Bürgerkontakte elektronisch bearbeitet. Gemeinsam mit den Ländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesfinanzministerium und dem Bundeskanzleramt hat Bremen zudem die vereinfachte Steuererklärung von Rentnern als Pilotprojekt eingeführt (wir berichteten). Die Resonanz ist bisher zu 100 Prozent positiv. Auch das Termin-Management funktioniert in der Freien Hansestadt gut: 32 Prozent aller Termine werden online reserviert, 27 Prozent telefonisch, der Rest erfolgt vor Ort durch ein gutes Leitsystem. Und beim ElterngeldDigital (wir berichteten) stiegen die Anträge von 5,4 Prozent im Juli 2019 auf 22,4 Prozent im Februar 2020. Beim Anwohnerparken nutzen 42 Prozent der Bürger die Online-Beantragung. Die E-Bibliothek ist ebenfalls ein gut funktionierender Online-Service in Bremen. Sie umfasst die Online-Beantragung der Bibliothekskarte, E-Ausleihe und E-Verlängerungen. Das Online-Angebot wurde auf 50.000 Medien ausgebaut, dazu diverse Datenbanken und Tageszeitungen. Auch der Service „Übers Handy zur Eheschließung“ wird zunehmend in Anspruch genommen und bedeutet eine große Arbeitserleichterung. Mehr Verbreitung wünschen wir uns im Bereich der elektronischen Gewerbean-, -um- und -abmeldung: Diese nutzen bislang nur zehn Prozent der Gewerbetreibenden. Ebenfalls mehr Zuspruch wünschen wir uns für die Online-Beantragung und -Bezahlung von Liegenschaftskarten (wir berichteten): Die Nutzungsquote liegt hier aktuell bei sieben Prozent, Tendenz steigend. Folgende Online-Dienste sind für die kommenden Monaten geplant: eKfz, das bis Ende April 2020 kommen wird, die Sondernutzung von Straßen und Wegen für Außengastronomie, Baustellenüberfahrt und Containergestellung, die Röntgenanmeldung, Trassengenehmigung und E-Baugenehmigung.
Wo sehen Sie in Bremen beim E-Government noch Nachholbedarf?
Einen Nachholbedarf sehe ich beim Nutzungsgrad unseres bestehenden Online-Angebots. Die Nachfrage nach bereits vorhandenen Online-Services könnte sicherlich besser sein. Dies ist jedoch meiner Meinung nach weniger auf eine fehlende Akzeptanz als auf einen (noch) geringen Bekanntheitsgrad bereits nutzbarer Dienste zurückzuführen. Aber natürlich bedarf es auch weiterer Maßnahmen, um künftig eine noch bessere Nutzerorientierung zu erreichen. Mit der inzwischen erfolgten Einführung einer elektronischen Bezahlfunktion auf Basis der Mehrländer-Plattform ePayBL können wir nun noch bessere, vollständig digitalisierte Online-Services entwickeln.
Welches sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen bei der OZG-Umsetzung?
Das OZG ist der Maßstab, an dem die Verwaltung gemessen wird: Aufgabenbezogene Umsetzung der Online-Dienste, Zugang (eID), Portale und Register sind die zentralen Herausforderungen. Um nicht von vornherein zu kurz zu springen, muss das Online-Stellen der Dienstleistungen verknüpft werden mit den zugrunde liegenden Prozessen. Die Geschäftsprozessorientierung ist notwendig, um auch langfristige Effekte für den anspruchsvollen Prozess der Dienstleistungserbringung zu erzielen. Der Fokus wird auf der Vereinfachung der Dienstleistung liegen. Bislang sieht das Verwaltungsverfahrensrecht zum Beispiel vor, dass pro Dienstleistung jeweils ein Antrag gestellt werden muss. Damit wir der Vision näherkommen, in einem (oder drei) Klicks auf dem Smartphone zum Bezug einer Leistung zu kommen, müssen wir solche Regelungen hinterfragen und für das Zeitalter der Digitalisierung angemessen weiterentwickeln. Das ist Gegenstand unseres Projekts ELFE – Einfach Leistungen für Eltern (wir berichteten) und des begleitenden Gesetzgebungsprozesses. Aktuell hat sich mit der digitalen Daseinsvorsorge eine neue Qualität der Diskussion ergeben. Insbesondere auf der kommunalen Ebene wird dies zum politischen Thema. Hier wird der Schwerpunkt der öffentlichen Dienstleistungserbringung auf der örtlichen Ebene (75 Prozent aller öffentlichen Dienste der Verwaltung) verknüpft mit den Entwicklungen der digitalen Dienstleistungen im zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sektor. Das wirft Fragen auf wie: Benötigen wir eine gemeinsame Plattformökonomie, um die umfassende Daseinsvorsorge vor Ort gewährleisten zu können? Wie wird die digitale Souveränität sichergestellt? Wie kommen wir zu einem gemeinsamen Dienstleistungsmanagement zwischen Kommune, zivilgesellschaftlichen Institutionen und Markt? Wie bilden wir diese neuen Prozesse im Rahmen eines ebenenübergreifenden Verwaltungsmanagements im Föderalismus ab? Über diese Veränderungsoptionen müssen wir ab sofort verstärkt nachdenken und einen Diskurs eröffnen, sonst verpasst die deutsche Digitalisierung wieder den Anschluss. Denn: OZG ist heute. Digitale Daseinsvorsorge ist die Zukunft.
„Bund, Länder und Kommunen müssen Digitalisierung als Gesamtaufgabe aller Entscheider praktizieren.“
Sie beschäftigen sich seit vielen Jahrzehnten mit der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Was sind Ihrer Erfahrung nach Erfolgsfaktoren für E-Government?
Hier würde ich zwischen dem institutionellen Rahmen und den Gestaltungsanforderungen differenzieren. Institutionell müssen wir besser werden: Bund, Länder und Kommunen im Föderalismus benötigen eine neue Staatskunst. Zum einen funktioniert das ebenenübergreifende Handeln von Bund, Ländern und Kommunen nur mit einer verbindenden Klammer. Insoweit gibt es im Föderalismus eine „Renaissance der Gemeinschaftsaufgaben“ im Grundgesetz, Abschnitt X. Der IT-Planungsrat nach Art. 91 c GG muss deshalb zur politischen Drehscheibe werden. Zum anderen müssen Bund, Länder und Kommunen Digitalisierung als Gesamtaufgabe aller Entscheider praktizieren, also als so genannte Digitalregierungen funktionieren. Bremen hat beispielsweise eine ressortübergreifende Koordinierung auf Staatssekretärsebene eingerichtet, die sehr ernst genommen wird, da sie auch über das Budget entscheidet. Auch haben wir uns in Bremen im IT-Bereich für die Digitalisierung neu aufgestellt. Wir verfügen inzwischen über eine ganze Abteilung im Finanzressort. Dort werden nicht mehr nur der Betrieb der IT-Infrastruktur und die Weiterentwicklung der Basiskomponenten gesteuert. Ein Referat beschäftigt sich mit Rechtsetzung und Controlling. Für die Digitalisierung haben wir ein eigenes Büro eingerichtet, das in einer IT-Garage angesiedelt wurde (wir berichteten). Um Unternehmensleistungen kümmert sich ein weiteres Referat. Die bundesweit agierende Koordinierungsstelle für IT-Standards (KoSIT) gehört ebenfalls dazu. Gemeinsam koordiniert und organisiert diese Struktur alle relevanten Entwicklungsstränge. Darüber hinaus müssen Digitalisierung und Arbeit 4.0 vom Workshop-Modus zum Alltag werden. Die Eigenverantwortung in den Verwaltungseinheiten muss gestärkt werden. Stabsstellen und Berater haben nur unterstützende Funktionen. In der Dienstleistungsorientierung ergeben sich folgende Gestaltungsbereiche: Wir müssen an der Vereinfachung der Dienstleistung an sich arbeiten, wie es etwa im Rahmen des Projekts ELFE und des begleitenden Gesetzgebungsprozesses geschieht. Ein weiterer wesentlicher Erfolgsfaktor ist die auf breiter Linie vorhandene und erprobte Fähigkeit der öffentlichen Verwaltung, bedarfsgerechte Qualifizierungsmaßnahmen für das jeweils benötigte Personal zu entwickeln und anzubieten. Wir haben schon traditionell hervorragend ausgebildete und überaus kompetente Fachleute in unseren Behörden. Die gilt es nun auf den digitalen Transformationsprozess vorzubereiten. Ich freue mich, dass ich während meiner Amtszeit als Vorsitzender des IT-Planungsrats meine Kollegen aus Bund und Ländern überzeugen konnte, ein Projekt für die Qualifizierung des digitalisierten öffentlichen Diensts zu starten. Besonders erfreulich ist dabei das bundesweit breite Beteiligungsinteresse aus zahlreichen Verwaltungen und Institutionen. Die Federführung für das Anfang 2020 gestartete Projekt „Qualifica Digitalis“ liegt bei uns in Bremen (wir berichteten). Wenn es gelingt, in diesem Projekt die Voraussetzungen für einen zeitgemäßen Qualifizierungsbedarf des öffentlichen Diensts zu schaffen, werden wir die anstehenden Herausforderungen der Digitalisierung erfolgreich meistern.
Wie kann Deutschland im internationalen Vergleich bei der Verwaltungsdigitalisierung aufholen?
Zunächst müssen wir bereit sein, über den eigenen Tellerrand zu schauen und von den Besten zu lernen. Europa bietet viele gute Ansätze und richtungsweisende Beispiele für erfolgreiche Innovationsprojekte und Digitalisierungsstrategien, von denen wir lernen und an denen wir partizipieren können. Schon allein der in der Bundesrepublik eingeleitete flächendeckende OZG-Umsetzungsprozess bringt uns mit seinen behördenübergreifenden Kooperationsstrukturen auf einen guten Weg hin zu einem höheren digitalen Reifegrad. Wenn wir jetzt auch noch die Lehren aus den in der aktuellen Corona-Krise erlebten Erfahrungen ziehen und den damit einhergehenden enormen gesellschaftlichen Rückenwind für die Sinnhaftigkeit einer digitalen Daseinsvorsorge nutzen, dann wird uns das auch im internationalen Vergleich weiter nach vorne bringen.
Welche Faktoren behindern den E-Government-Erfolg?
Wir müssen noch konsequenter als bisher die Nutzerinteressen in den Vordergrund unserer Digitalisierungsprojekte stellen. Und dafür ist es erforderlich, in unseren Projekten auch einmal quer zu denken, alte Zöpfe abzuschneiden und neue Wege zu beschreiten. Wege, die uns aus dem Silodenken unserer Verwaltungen herausführen und die mancherorts immer noch vorhandenen kulturellen Hürden des traditionellen Verwaltungshandelns überwinden helfen. Das gilt in mancherlei Hinsicht auch für die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Es wird immer deutlicher, dass Sonderwege und Alleingänge in einer digitalisierten Verwaltungswelt nicht mehr das Mittel der Wahl sind. Wir brauchen Zusammenarbeit und zwar noch viel intensiver als zuvor. Unser föderales System ist gut und bewährt. Ein System des kooperativen Föderalismus – wie ich zum Beispiel auch die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen bei der OZG-Umsetzung inzwischen verstehe – wird umso erfolgreicher sein.
Bremen hatte 2019 den Vorsitz im IT-Planungsrat (wir berichteten). Welche Projekte konnten in dieser Zeit realisiert werden und was steht für dieses Jahr an?
Das gemeinsam von Bund und Ländern getragene Digitalisierungsbudget des IT-Planungsrats und die Gründung der FITKO waren im zurückliegenden Jahr wesentliche Schritte nach vorne (wir berichteten). Zudem konnte ich die Einbindung der kommunalen Ebene noch stärker als bisher realisieren und in der Arbeit des IT-Planungsrats verankern. Nun aber muss die FITKO aufgebaut und weiter gestärkt werden. Und die Länder müssen noch viel enger als bisher kooperieren, um die arbeitsteilige OZG-Umsetzung auch wirklich rechtzeitig zu schaffen. Der IT-Planungsrat ist dabei inzwischen eine wichtige digitalpolitische Drehscheibe geworden, die auch gesellschaftspolitische Wirkungen erzielt. Daran arbeite ich mit allem Nachdruck. Fachlich möchte ich auf drei Schwerpunkte verweisen: Wir werden ein einheitliches Unternehmenskonto in Deutschland bekommen. Bremen und Bayern praktizieren hier eine gute Nord-Süd-Kooperation (wir berichteten). Die Digitalisierungslabore sind zum Erfolgsfaktor geworden. Während vor einiger Zeit der Begriff Digitale Souveränität nahezu unbekannt war, ist er heute zum zentralen Element der Entwicklung der Digitalisierung geworden.
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